Rede Dr. Wolfgang Eßer
Es gilt das gesprochene Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich falle gleich mit der Tür ins Haus: Bei dem gesundheitspolitischen Scherbenhaufen, den uns der Minister nach gerade einmal einem Jahr im Amt hinterlässt, haben wir heute und morgen eine Menge Gesprächsstoff und es wird Zeit, eins und eins zusammenzuzählen, Bilanz zu ziehen und Konsequenzen zu besprechen. Sehen Sie es mir deshalb bitte nach, dass ich andere drängende Themen wie – Digitalisierung, Bürokratielasten, Amalgam-Versorgung – heute nicht berücksichtigen kann. Dazu werden dankenswerterweise meine Vorstandskollegen noch ausführlich berichten.
GKV-Finanzstabilisierungsgesetz
Wir sind hier und heute mit einem Gesetz konfrontiert, das die Versorgung gefährdet, das viele Praxen in Existenznot bringt und das die flächendeckende Sicherstellung der zahnärztlichen Versorgung in bestimmten Regionen in Frage stellen wird.
Dieses Gesetz, das uns im Juli in unsere letzte VV geplatzt ist, das GKV FinStG
- begrenzt das Wachstum der Punktwerte,
- budgetiert die Gesamtvergütungen und begrenzt deren Zuwachs,
- und verhindert einen geordneten Roll-Out der neuen Parodontitis-Therapie.
Ein toxischer Politcocktail, der absolut unverdaulich ist.
In den vergangenen Wochen und Monaten haben wir gemeinsam mit den KZVen unter Hochdruck und mit aller Energie daran gearbeitet, die negativen Auswirkungen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes auf die Versorgung zu verhindern oder zumindest so weit wie möglich abzumildern. All unsere Argumente, alle Fakten, die wir unzählige Male über alle Kanäle, auf allen politischen Ebenen vorgetragen haben, sämtliche Empfehlungen und Stellungnahmen der Wissenschaft, ja selbst die Stellungnahme des Bundesrates – das alles wurde vom Minister und der Ampel vom Tisch gefegt und weitgehend ignoriert.
Jetzt, wo das parlamentarische Verfahren vorbei ist, wissen wir: Die fatalen Folgen dieses Spargesetzes werden uns und unseren Patienten über Jahre schaden. Nach dieser ersten Bilanz stellt sich die Gretchenfrage: Wollen wir das so widerspruchslos hinnehmen, oder wollen wir heute eine klare Antwort darauf geben?
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
dieses Gesetz ist mehr als Kostendämpfungspolitik aus der Mottenkiste. Wenn wir es im Zusammenhang mit den vielfältigen politischen Eingriffen der letzten Jahre in die zahnärztliche Versorgung betrachten, wird seine Dimension klar. Dieses Gesetz ist ein Frontalangriff auf die Gesundheit der Patientinnen und Patienten und ein Frontalangriff auf die Zahnärzteschaft! Die Diskrepanz zwischen der Schönrederei des Ministers – auch heute wieder bei seinem Grußwort im Hinblick auf die Parodontitistherapie und das Wissen um die tatsächlichen Folgen des Gesetzes – ist dabei fast unerträglich.
Angetreten ist die Ampel mit dem Anspruch, eine „Fortschrittsregierung“ zu sein, uns wurden „Nachhaltigkeit“ und „Präventionsförderung“ versprochen – Ziele, die schwarz auf weiß im Koalitionsvertrag der Ampel verankert sind. Und dann, nicht einmal ein halbes Jahr später, wird hier hinter den Kulissen ein Gesetz zusammengeschustert, das unsere wirtschaftlich effiziente und präventionsorientierte Arbeit abstraft, statt die Vorreiterrolle der Zahnärzteschaft auf diesem Gebiet zu würdigen.
Wie oft haben wir betont und mit Fakten belegt, dass vom zahnärztlichen Versorgungsbereich keine Gefahren für stabile Kassenfinanzen ausgehen? Im Gegenteil: Trotz der Tatsache, dass der Anteil der vertragszahnärztlichen Versorgung an den Ausgaben der Kassen in den letzten Jahren von rund 9 auf ca. 6 Prozent gesenkt wurde und damit trotz der Tatsache, dass die Zahnärztinnen und Zahnärzte ihren Sparbeitrag längst im Übermaß erbracht haben, wird in unserem vergleichsweise kleinen Versorgungsbereich überproportional gekürzt und mit der Parodontitis-Therapie quasi im Vorbeigehen noch ein Leuchtturmprojekt der präventionsorientierten Gesundheitsversorgung abgerissen.
Der Minister hat für diese Art der Kostendämpfungspolitik sein ganz eigenes Wording gefunden, er nennt das „Effizienzreserven im System heben“. Tatsächlich ist das aber nichts Anderes als „Politik zu Lasten stabiler Versorgungsstrukturen“ und „Augenwischerei“, wenn ich an die Parodontitis-Versorgung denke. Daran ändert nichts, dass der Bundestag auf den letzten Metern im Gesetzgebungsverfahren den Ausnahmekatalog für die im FinStG beschlossene Punktwertabsenkung und Budgetierung um die Gruppe der Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderung erweitert hat: Bei einem Versorgungsanteil von unter einem Prozent kann ich das nur als politisches Feigenblatt werten, um die massiven Leistungskürzungen für die Versicherten zu kaschieren. Sich mit diesen marginalen Anpassungen dann auch noch als Wohltäter für vulnerable Gruppen zu schmücken, ist an Scheinheiligkeit und Zynismus kaum zu überbieten.
Der Minister und seine Ziele: Verehrte Kolleginnen und Kollegen, reden wir über den Gesundheitsminister, seinen Politikstil und seine politischen Ziele.
In über 30 Jahren, die ich standespolitisch aktiv bin, unter acht Ministern seit Herrn Seehofer, ist mir ein solch unkommunikativer, dialogarmer Politikstil, eine solche Geringschätzung gegenüber der zahnärztlichen Selbstverwaltung noch nicht untergekommen. Dass im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens mit uns kein Wort gesprochen wurde, dass wir mit diesem Gesetz – und ich sage ganz bewusst – überrumpelt werden sollten, markiert eine „neue Qualität“, einen Tiefpunkt in der Zusammenarbeit mit dem Ministerium.
Der letzte Gesundheitsminister hat uns ja auch nicht uneingeschränkt unterstützt, aber bei der Vielzahl der Gesetze, mit der er uns bombardiert hat, gab es doch immer im Vorfeld eine Ankündigung, Eckpunktepapiere und Gespräche, auch heftige Diskussionen und Auseinandersetzungen, aber er hat sich für unsere Argumente interessiert gezeigt und hat sie vielfach auch berücksichtigt. Das kann man von dem aktuellen Minister nun weiß Gott nicht behaupten.
Wer ein Gesetz spätestmöglich vor der Sommerpause einbringt und uns dann am Freitagnachmittag, übers Wochenende eine Stellungnahmefrist von vier Tagen einräumt, der demonstriert damit unmissverständlich, dass er kein Interesse am Dialog hat. Der macht Politik im Alleingang, den interessieren die Folgen für die Versorgung und die Folgen für den Berufsstand nicht. Erinnern Sie sich an den Auftritt des Gesundheitsministers, der sich bei der Vorstellung des Regierungsentwurfs vor die Presse stellt und die Schamlosigkeit besitzt, Änderungen durch den Bundestag noch vor Beginn des parlamentarischen Verfahrens quasi ex cathedra auszuschließen. Und das Selbstverwaltungssystem mit einer Ansammlung von Lobbyisten gleichzusetzen, auf die es nicht zu hören gelte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir brauchen keinen Minister, der die Belange derjenigen, die das Gesundheitswesen schultern, ausblendet und die Ansprüche der Versicherten nach einer modernen und effizienten Parodontitis-Therapie untergräbt. Wir brauchen keinen Minister, der sich in abendlichen Talkshows selbstinszeniert und seine Pläne im Vorfeld lieber mit Markus Lanz bespricht als mit uns. Das ist nicht das, was wir mit Fug und Recht von einem Gesundheitsminister erwarten dürfen.
Solange Herr Professor Lauterbach aber im Amt sein wird, werden wir uns auf diese Art von „Gesundheitspolitik“ einstellen müssen, denn hier ist System im Spiel. Dieses Spargesetz ist sicher nicht das Ende, sondern der Auftakt für eine Serie von Folgegesetzen, von denen man befürchten muss, dass sich der Weg der Kostendämpfung entgegen aller politischen Beteuerungen fortsetzen wird. Die strukturellen Probleme, die dem Einnahmen- / Ausgabenfiasko der GKV zugrunde liegen, wird dieses Gesetz nicht beseitigen, das hat der Minister selbst mehrfach betont. Das müssen wir klar vor Augen haben und darauf müssen wir uns vorbereiten.
Die galoppierende Inflation von aktuell 10 % – die Wirtschaftsweisen sagen für 2023 eine Inflationsrate von 7 % voraus –, die exorbitanten Preissteigerungen bei Energie und Materialkosten, die wir anders als andere Berufe nicht weitergeben können, führen alleine schon zu bedrohlichen wirtschaftlichen Situationen in den Praxen. Uns dann auch noch Honorarkürzungen zuzumuten, die strikte Budgetierung wiedereinzuführen, wenn sich gleichzeitig die auf drei Jahre angelegte Einführungsphase der neuen Parodontitis-Therapie im Roll-Out befindet, grenzt an Böswilligkeit und raubt unseren Praxen, vor allem aber den niederlassungswilligen Kolleginnen und Kollegen das letzte bisschen Planungssicherheit und Zukunftsperspektive.
Dies alles wird vor allem die ländlichen und strukturschwachen Regionen treffen:
- Dringend benötigte Neuniederlassungen werden ausbleiben,
- ältere Kolleginnen und Kollegen werden entnervt vorzeitig aufgeben,
- Nachfolger werden kaum noch gefunden werden.
- Bei ohnehin bestehendem hohen Fachkräftemangel werden die erforderlichen wirtschaftlichen Ressourcen für eine angemessene und marktgerechte Bezahlung unserer Teams massiv erschwert.
Als Folge werden wir weitere Abwanderungen in fachfremde Berufe erleben, wo die Gewerkschaften heute Tarifsteigerungen von 8 % und Einmalzahlungen von 3000,- Euro herausverhandeln können. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Teil einer realistischen Prognose der Auswirkungen dieses sogenannten „Pflasters“, mit dem der Minister euphemistisch das Gesetz bezeichnet. Dieses Pflaster wirkt wie ein Katalysator, wie ein Brandbeschleuniger bei der Vernichtung von Versorgungsressourcen auf dem Land.
Hier wird die Sicherstellung den größten Schaden erleiden mit nicht wieder gut zu machenden Konsequenzen. Und das alles eben nicht nur für zwei Jahre als „Notopfer“ der Zahnärzteschaft, wie uns der Minister dieses Gesetz ganz offenbar verkaufen will. Es liegt doch auf der Hand, dass die Punktwertbegrenzung und die Budgetierung wegen ihrer Basiswirkung weit in die Zukunft reicht und die Praxen dauerhaft schädigen wird!
Das ist gleichzeitig der Nährboden für die fortschreitende Vergewerblichung der zahnmedizinischen Versorgung, für die Entwurzelung unseres Gesundheitssystems durch Investoren und Hedgefonds. Trotz der klaren Forderungen von vielen Seiten, von uns, von den Ärzten, von den Ländern, die sich in der GMK einstimmig und klar positioniert haben, trotz der klaren Worte auch von Minister Holetschek: Was konkret bitte unternimmt denn unsere Bundesregierung? Was tut der Gesundheitsminister, außer anzukündigen, dass er sich die Sache einmal ansehen will. Was für eine Ignoranz, tut er doch so, als sei das Problem neu und völlig unbekannt.
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahrheit ist, dass hier Private-Equity und Großinvestoren ganz gezielt und konsequent weiter der rote Teppich auslegt wird. In diesem Zusammenhang dürfen wir unter keinen Umständen vergessen, was die Politik uns auf dem Gebiet der privaten Gebührenordnung zumutet. Mindestens seit 1982, in Wirklichkeit aber schon seit Abschaffung der BuGo-Z 65, ist uns auch nur die geringste Punktwertsteigerung versagt geblieben und damit die Entkoppelung von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auch im Bereich der Privatbehandlung bewusst und vorsätzlich betrieben worden.
Während Tierärzte, Steuerberater, Architekten und Wirtschaftsprüfer, um nur Beispiele zu nennen, regelmäßige Anpassungen ihrer Gebührentarife an veränderte Rahmenbedingungen erfahren, werden sie uns vorenthalten. Inzwischen hat der Bema, und das trotz vielfältiger politischer Eingriffe in die Vergütungen in den 90er Jahren, in vielen Positionen die Bewertung der GOZ überholt. Für sich alleine genommen ist das schon ein Skandal ohne Gleichen, im Kontext aber erkennbar Teil eines gewollten Systemumbaus.
Allzu schnell vergessen wir, mit welcher Energie der Minister für die Bürgerversicherung eingetreten ist und wie offen SPD und Grüne als Teil ihrer ideologischen Grundüberzeugung das duale Gesundheitssystem abschaffen wollen. Dabei dürfen wir getrost davon ausgehen, dass die Bürgerversicherung schon längst in der politischen Realisierungsphase sein dürfte, hätte sich die FDP in den Koalitionsverhandlungen nicht mit aller Macht dagegengestemmt.
Parodontitis-Therapie
Abseits der ganz grundsätzlichen Frage, wie wir auf das FinStG und die dargestellten Entwicklungen reagieren, erwarten unsere Kolleginnen und Kollegen in den Praxen zurecht konkrete Antworten auf die versorgungspolitischen Kollateralschäden dieses Gesetzes. Nach jahrelanger Arbeit und mehreren Anläufen ist uns im G-BA endlich der Durchbruch bei der Neuaufstellung der Parodontitis-Versorgung gelungen. Vor gerade einem Jahr wurde den Versicherten eine wirksame und auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand basierende Parodontitis-Therapie versprochen und rechtlich garantiert.
Das alles im großen Konsens mit den Kassen, den Unparteiischen sowie der Patientenvertretung und auch auf Seiten des BMG im vollen Wissen über die hierfür tatsächlich erforderlichen Finanzmittel. Das Ziel, mit dem wir uns im G-BA auf den Weg gemacht hatten, mit der Wissenschaft, den Krankenkassen und mit den Patientenvertretern, war, die hohe Prävalenz in Deutschland schnell zu senken. Jährlich sollten 1,2 Mio. Neubehandlungsfälle versorgt werden.
Diesen von allen Seiten gefeierte „Meilenstein für die Mund- und Allgemeingesundheit“ hat die Regierung mit dem FinStG zur Disposition gestellt. Vorsätzlich, und das wiegt für mich besonders schwer, haben der Minister und seine Kollegen in der Ampel alle Hinweise ignoriert, den gravierenden Webfehler im Gesetz zu korrigieren und die mehrjährige Parodontitis-Behandlungsstrecke und die daraus resultierenden Folgekosten basiswirksam zu berücksichtigen. Im Zielkonflikt zwischen Versorgung und Finanzen hat man sich ganz bewusst auf die Seite der Kostendämpfung geschlagen und damit gegen die Versorgung und die berechtigten Ansprüche der Versicherten gestellt.
Keine Gelegenheit haben wir ungenutzt gelassen, diesen Webfehler deutlich zu machen, seine Negativfolgen auf die Versorgung aufzuzeigen und seine konsequente Beseitigung zu fordern: Mit dem Minister, mit dem BMG auf Fachebene, mit den Gesundheitspolitikern aller demokratischen Parteien, haben wir in unzähligen Meetings gesprochen. Ihnen allen haben wir die Problematik erläutert. Niemand hat die Bedeutung der neuen Parodontitis-Therapie für die Mund- und Allgemeingesundheit bestritten.
In den Medien, in Mailings, in Fachveranstaltungen und auf Social-Media-Kanälen haben wir gewarnt, was dieses Gesetz de facto für die Versorgung bedeutet. Auch in der Expertenanhörung im Bundestag, vor den Mitgliedern des Gesundheitsausschusses, habe ich hierzu sehr klare Worte gefunden, für alle nachlesbar in den Protokollen des Bundestages. Und obwohl wir bei allem keineswegs erfolglos waren, sichtbar in etlichen Medienberichten, in der Stellungnahme des Bundesrates und in der Gegenäußerung der Bundesregierung, am Ende hat das alles nicht geholfen.
Aber keiner der Abgeordneten, niemand in der Ampel, der dieses Gesetz letztlich abgesegnet hat, kann behaupten, die Fakten nicht gekannt zu haben. Wer sich aber im Wissen um die absehbaren Folgen und damit vorsätzlich gegen die Versorgung der Patientinnen und Patienten entscheidet, begeht als Gesundheitsminister und als Gesundheitspolitiker in Koalitionsverantwortung ein Sakrileg. Auch das politische Feigenblatt, die vulnerablen Gruppen von der Budgetierung auszuklammern, kann letztlich nicht die Tatsache verstecken, dass dem System mit dieser politischen Entscheidung die notwendigen Mittel entzogen werden.
Sehr verehrte Damen und Herren,
Sie kennen unsere Arbeitsweise. Wir arbeiten zahlen- und faktenbasiert. Deshalb haben wir die Auswirkungen des Gesetzes auf die zahnärztliche Versorgung der kommenden Jahre – und ganz speziell die Auswirkungen auf die Parodontitisversorgung – akribisch zusammen mit den KZVen bis in die kleinsten regionalen Vertragsverästelungen analysiert. In aller Deutlichkeit muss festgestellt werden, dass auf Bundesebene insgesamt etliche hundert Millionen Euro für 2023 und 2024 fehlen werden; genau wie wir das in unseren vielen Gesprächen mit der Politik dargestellt haben, auch wenn uns der Minister heute in der Videobotschaft das genaue Gegenteil weißmachen wollte.
Dieser Mangel wird die angekündigten Leistungs-einschränkungen – in regional unterschiedlicher Ausprägung – zwangsläufig nach sich ziehen müssen. Den Kolleginnen und Kollegen vor Ort, die mit ihrer täglichen Arbeit die Versorgung von Millionen Menschen aufrechterhalten, versichere ich: Wir werden trotz alledem alles dafür tun, um die Parodontitis-Versorgung über die Zeit zu retten und die Patientinnen und Patienten, die auf diese Behandlung dringend angewiesen sind, nicht im Stich zu lassen!
Wir haben nicht gemeinsam mit den wissenschaftlichen Fachgesellschaften über viele, viele Jahre für eine dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechende, präventionsorientierte Parodontitistherapie gekämpft, um sie uns jetzt durch Spargesetze der Politik wieder kaputt machen zu lassen. Und allen politisch Verantwortlichen muss dabei klar sein: Unter den engen Grenzen, die uns das FinStG diktiert, ist es illusorisch, lebensfern und unzumutbar, Leistungen in der Fläche ohne Gegenfinanzierung auszuweiten.
Dort, wo das Geld im System fehlt, können wir nicht gewährleisten, dass die Parodontitis-Versorgung vollumfänglich sichergestellt wird. Denn bei aller Gemeinwohlorientierung der Heilberufe wird ein Grundsatz unverändert Gültigkeit behalten: Für begrenztes Geld wird es auch nur begrenzte Leistungen geben! Dafür Herr Minister, tragen Sie und ihre Kollegen in der Ampel die Verantwortung! Niemand sonst! „Politik ist auf ambulanten Auge blind“
Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
ganz zweifelsfrei sind wir aktuell wieder in einer ähnlichen, allerdings schlimmeren Defizitsituation der GKV als damals, als in den 1990er Jahren die Phase der rigiden Kostendämpfungspolitik mit allen katastrophalen Rationierungsfolgen einsetzte. Allerdings ist das aktuelle Defizit in keiner Weise von uns produziert, sondern in Folge politischer Entscheidungen zu Stande gekommen. Das wir dafür wirtschaftlich zur Verantwortung gezogen werden, ist ungeheuerlich.
Im Übrigen gehe ich ernsthaft nicht davon aus, dass diese Koalition in der Lage sein wird, die für eine Sanierung der GKV Finanzen notwendigen Strukturreformen auf den Weg zu bringen, die ihren Namen auch verdienen. Ich rechne eher früher als später mit einem Finanzstabilisierungsgesetz 2.0, zusammengeschustert am „rot-gelb-grünen“ Tisch, mit weiter unabsehbaren Folgen, treffen doch die strukturellen Finanzprobleme der GKV auf eine Gesundheitspolitik, die die stationäre Versorgung und die Pflege in jeder Hinsicht priorisiert. Für die ambulante freiberufliche Versorgung, geschweige denn für die zahnärztliche Versorgung, interessiert sich dieser Minister ganz offensichtlich nicht.
Der Chef des Hausärzteverbandes hat das im Zusammenhang mit den Energie-Hilfspaketen der Regierung in einem Satz treffend auf dem Punkt gebracht: Die Politik – und ich möchte anknüpfen, dieser Minister – ist auf dem ambulanten Auge blind! Während es 2023 in der GKV eine – und ich zitiere hier den Minister – „historische Deckungslücke“ von 17 Mrd. Euro gibt, für die unter anderem wir Zahnärzte in Geiselhaft genommen werden, zaubert diese Regierung ein 8-Mrd.-Paket für die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen aus dem Ärmel.
Stationäre Versorgung schützen? Ja! Ambulante Versorgung schützen? Fehlanzeige! Mehr kann man dazu nicht sagen.
Selbstverwaltung und Corona-Pandemie
Im Grunde wiederholt sich in der aktuellen Krisensituation das, was wir bereits in der Corona-Pandemie erleben mussten. Hier erinnere ich gerne nochmal an die enormen Leistungen unseres Berufsstandes, an den Einsatz der Kolleginnen und Kollegen und ihrer Teams, die über zwei Jahre alles dafür getan haben, die Versorgung bei maximalem Infektionsschutz aufrecht zu erhalten, ohne dabei nennenswerte Unterstützung seitens der Politik zu erfahren. Der Minister hat sich ja gerade für diesen Einsatz bedankt. Nette Worte. Das war es dann aber auch schon mit der Wertschätzung. Immer wenn es konkret wird, wenn Not am Mann war oder die Chance bestand, den geleisteten Einsatz zu honorieren, hat uns die Politik im Regen stehen lassen.
Bei der Schutzschirmregelung sind wir, anders als die Krankenhäuser und die Vertragsärzte, hinten runtergefallen und Schutzausrüstung gab es einzig für die Schwerpunktpraxen. Nicht zu vergessen, wie die MFA und ZFA beim Pflegebonus ignoriert wurden. Das ist ein beredtes Beispiel dafür, wie der Minister „Wertschätzung“ für die Praxen in der ambulanten Versorgung in der Praxis tatsächlich umsetzt.
Die betriebswirtschaftlichen Auswirkungen der Lockdowns sind bekannt. Trotz der beiden budgetfreien Jahre 2021 und 2022, die wir seitens der KZBV der Politik abgerungen haben, konnten die Praxen nicht an die Situation quo ante anknüpfen, die Abrechnungsvolumina sind immer noch niedriger als Ende 2019. Überflüssig zu fragen, was mit unseren inhabergeführten Praxen während der Pandemie passiert wäre, ohne die 275 Mio. Euro, die wir den Kassen und zwar auf rein vertraglicher Basis als Pandemiepauschale abgerungen haben, und ohne die Hygienepauschalen im Bereich der GOZ, die die BZÄK der PKV abgerungen hat?
Das Beispiel zeigt, wie wichtig und unerlässlich eine funktionierende Selbstverwaltung grundsätzlich, aber ganz besonders in Krisenzeiten, also gerade auch jetzt ist, wo der Staat mit dem FinStG erneut willkürlich in das Gesundheitssystem und in unsere Gesamtverträge eingreift. Aber machen wir uns bitte nichts vor: Gerade diese starke Selbstverwaltung ist politisch nicht gewollt. An jeder Stelle werden uns Knüppel zwischen die Beine geworfen. Wir sind so manchem Politiker ein Dorn im Auge. Störenfriede, die schwer zu händeln sind, die in ihrem Handlungsspielraum eingegrenzt werden müssen und die am besten baldmöglichst abgeschafft werden sollten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wohin es führt, wenn der Selbstverwaltung ein Mitspracherecht verweigert wird, erleben wir jetzt und in den nächsten Jahren hautnah am FinStG. Deshalb müssen wir alle, jede Zahnärztin und jeder Zahnarzt viel engagierter als bisher für unser Recht auf Selbstverwaltung eintreten und alles dafür tun, dass diese wieder mit einem weiten Handlungs- und Gestaltungsspielraum ausgestattet wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier spreche ich ganz bewusst jede einzelne Zahnärztin und jeden einzelnen Zahnarzt an: Werden Sie wach, und realisieren Sie bitte, bei allem Frust und aller Wut, die Sie zu Recht verspüren, dass es nicht die KZVen und die Kammern sind, die Ihnen das Leben schwermachen, sondern dass es alleine die Politik ist, die uns systematisch in unseren Rechten einschränkt und die Rahmenbedingungen unserer Berufsausübung permanent verschlechtert.
Alle Verbesserungen der letzten Jahre in wirtschaftlicher und versorgungspolitischer Hinsicht sind alleine der Initiative der Selbstverwaltung zu verdanken. Machen Sie sich einmal objektiv klar, wie Sie ohne diese Erfolge heute wirtschaftlich dastünden. Der Staat und die Kassen haben uns noch nie etwas gegönnt, geschweige denn geschenkt, alles musste hart und meist gegen erbitterten Widerstand erkämpft werden.
Im Koalitionsvertrag findet sich nicht ein einziges Wort zum Thema Freiberuflichkeit und zur Stärkung der Selbstverwaltung. Und auch die praktische Politik der Ampel zeigt ganz eindeutig, wohin der politische Zug auf der Strecke der konsequenten Marginalisierung der Selbstverwaltung fährt. Ein plakatives, aber nicht das einzige Beispiel, ist die im Sommer vom Minister ernannte Krankenhaus-Kommission. Weder die DKG noch der GKV-Spitzenverband oder die Bundesärztekammer sind Mitglieder. Das ist kein Zufall, sondern ein erkennbares politisches Muster, um die Selbstverwaltung gezielt aus den wichtigen Entscheidungsprozessen zu verdrängen, die man lieber beim Ministerium selbst oder in wissenschaftlichen Kommissionen andocken möchte, um hier nach politischem Gutdünken schalten und walten zu können.
Ein Abbild, wie Selbstverwaltung in den Köpfen so manchen Politikers aussehen sollte, zeigt die aktuelle Situation der Gematik, wo aufgrund der Mehrheitsverhältnisse den Mitgliedern der Selbstverwaltung nur noch die Rolle eines Handlangers für die Umsetzung unliebsamer Entscheidungen zugedacht ist. Der jüngste Affront gegen unser Selbstverwaltungssystem, auch das soll hier nicht unterschlagen werden, ist die von SPD, Grünen und FDP in den Entwurf zum Krankenhauspflegeentlastungsgesetz eingebrachte Vorgabe zur paritätischen Zusammensetzung der Vorstände von KZBV und KZVen.
Ich will hier in aller Öffentlichkeit noch einmal unmissverständlich klarstellen: Ja, wir brauchen eine ausgewogenere Repräsentation unserer Kolleginnen in der Standespolitik, ohne jedes Wenn und Aber. KZBV und KZVen stehen hinter diesem Ziel! Deshalb haben wir das Konzept Frauenförderung in dieser VV verabschiedet und uns seine Umsetzung zur Selbstverpflichtung gemacht.
Was mich aber absolut auf die Palme bringt, und was nun wirklich auch den Unmut aller Frauen in unserem Berufsstand hervorrufen sollte, ist, dass die Ampel hier – und ich sage: ganz bewusst – eine solch weitreichende Änderung, die akut in unsere Vorstandswahlen schneidet und viele Rechtsfragen aufwirft, dass eine solche strikte Vorgabe Last Minute, handwerklich nicht korrekt oder gar ausgereift , als völlig fachfremde Änderung in einem Gesetz verwirklicht werden soll, das sich eigentlich mit Krankenhaus und Digitalisierung beschäftigt.
Das hätte man getrost schon vor Monaten machen können, in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, dann hätten wir uns zumindest im Ansatz darauf einstellen können. Jetzt, mitten im Galopp die Pferde beschlagen zu wollen, ist nicht nur realitätsfern, sondern eine bewusste Unverfrorenheit und Provokation gegenüber der Selbstverwaltung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr verehrte Damen und Herren,
danke, dass Sie bis hierhin meine doch sehr schonungslose Analyse ertragen haben. Ich komme zu meinem Fazit:
Fasst man alle Bausteine zusammen, die der ambulanten und hier der zahnärztlichen Selbstverwaltung und Versorgung an Kuckuckseiern von der Politik über die Jahre ins Nest gelegt worden sind, muss man zu der Überzeugung gelangen, dass hinter all dem nicht Zufall, Ahnungslosigkeit oder Unwissenheit steht, sondern ein ideologischer Masterplan, ein gedanklicher Ansatz, geprägt von tiefer Staatsgläubigkeit und deutscher Regelungswut.
Was Ulla Schmidt mit ihrer unsäglichen Tirade „es muss Schluss sein mit der Ideologie der Freiberuflichkeit“ als Feldzug gegen unsere Grundfesten initiiert hat, wurde 2015 mit der Öffnung des Gesundheitswesens und der damit verbundenen unverhohlenen Einladung an versorgungsfremde Investoren und Private Equity Gesellschaften, sich im Gesundheitssystem breit zu machen, konsequent weiterverfolgt. Der Vergewerblichung der medizinischen und zahnmedizinischen Versorgung ist damit bis heute Tür und Tor geöffnet, was zu einer massiven Verdrängung freiberuflich getragener Praxen vor allem in Ballungsräumen und Regionen mit einkommensstarken Bevölkerungsanteilen geführt hat. Eine Entwicklung, die auch weiterhin zunehmen wird, wenn nicht die Notbremse gezogen wird.
Minister Lauterbach schreitet konsequent auf dem eingeschlagenen Weg fort, unser Gesundheitssystem umzubauen,
- indem er das duale Krankenversicherungssystem behindern und ad absurdum führen will,
- indem er der grassierenden Vergewerblichung des Gesundheitswesens keinen Riegel vorschiebt,
- indem er die Selbstverwaltung stranguliert, und uns Standespolitiker auch sprachlich auf das Niveau von Lobbyisten herabwürdigt,
- indem er aktiv in ureigenste Rechte und Zuständigkeiten der Selbstverwaltung hineinregiert und
- indem er die zahnärztlichen Praxen als Teil der ambulanten Versorgung systematisch benachteiligt und wirtschaftlich ins Abseits drängt.
Schlussappell
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Warnsignale werden lauter und die Zeiten für unser Gesundheitssystem, für die ambulante Versorgung, die Zeiten für unseren Versorgungsbereich werden rauer, vielleicht sogar stürmisch.
Die zentralen und entscheidenden Fragen, die heute gestellt und auch beantwortet werden müssen sind:
- Wie kann das sich abzeichnende Menetekel verhindert werden?
- Welchen Beitrag können wir dazu beitragen?
- Was müssen wir als Zahnärzteschaft unternehmen?
Ich denke, dass wir als erstes klar und unmissverständlich eine deutliche Botschaft an den Minister und die Ampel senden müssen. Und diese Botschaft kann nur heißen: „Das Maß ist voll!“, „es reicht“, Herr Minister Lauterbach und sehr geehrte Damen und Herren in der Ampel. Als deutliche Reaktion sollten wir, KZBV und KZVen, eine breit angelegte Kampagne aufsetzen, die die dramatischen Auswirkungen dieser fehlgeleiteten Politik klar adressiert – in den Praxen, in der Öffentlichkeit und in der Politik – und unseren Protest ganz unmissverständlich zum Ausdruck bringt.
Noch länger zuzuschauen oder aktuell das FinStG stillschweigend abzunicken oder es abzuverwalten, kann nicht in Frage kommen. Wir dürfen uns vor dem Hintergrund unserer Verantwortung gegenüber den Versicherten und dem Berufsstand nicht wegducken! Zum Zweiten müssen wir mehr denn je politische Verbündete finden, die uns dabei helfen, nicht unter die Räder dieser Politik zu geraten.
Ich bin bei aller Frustration der festen Überzeugung, dass wir nicht auf verlorenem Posten stehen. Das zeigt die Unterstützung des Bundesrates beim Kampf für die Parodontitis-Therapie und der erneute einstimmige Beschluss der Länder gegen iMVZ. Auch die Worte von Minister Holetschek waren heute für mich ein klarer Beleg, dass es Kräfte gibt, die uns im politischen Raum den Rücken stärken. Um diese Kräfte erfolgreich zu bündeln und neue Allianzen zu formen, braucht es zum Dritten eine starke Selbstverwaltung, die sich durch Expertise, Mut, Weitsichtigkeit, Sachverstand und Courage auszeichnet und auf hohes Vertrauen und breite Unterstützung der Kollegenschaft setzen kann.
Und zum Vierten müssen wir die Kolleginnen und Kollegen vor Ort erreichen und Ihnen die Bedrohlichkeit der Situation klarmachen, ohne sie zu entmutigen. Wir müssen sie hinter der Selbstverwaltung vereinen und bewirken, dass wir wirklich wieder als ein Berufsstand mit einer Stimme sprechen und agieren. Alle Zahnärztinnen und Zahnärzte müssen wieder enger zusammenrücken. Wir dürfen uns von der Politik nicht weiter auseinanderdividieren lassen. Wir müssen uns gegen fehlende Wertschätzung und Anerkennung, gegen Benachteiligung und Ungerechtigkeit aktiv zur Wehr setzen.
Das alles geht nur zusammen. Diesen Weg können wir nur mit einer couragierten Kollegenschaft gehen, mit couragierten Zahnärztinnen und Zahnärzten, die sich hinter ihre ebenso couragierte Standesführung stellen! Daher bitte ich Sie, und das geht an alle Kolleginnen und Kollegen an der Basis: Unterstützen Sie uns, engagieren Sie sich! Stellen Sie sich hinter Ihre Standesvertretungen. Adressieren Sie Ihren berechtigten Unmut und Ihre Wut an die Stelle, die ursächlich dafür ist. Das sind Teile der Politik, das ist der Minister und das sind nicht KZVen und Kammern. Aber mindestens in gleichem Maße, mit dem wir klarmachen, was für uns nicht akzeptabel ist, müssen wir der Politik und der Gesellschaft auch vermitteln, wofür wir stehen und was unsere Ziele sind. Beispielhaft will ich nur einige aufzeigen:
Wir stehen für
- eine moderne, an den wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtete Zahnheilkunde, die den Menschen zugewandt und allen zugänglich ist,
- ein duales Gesundheitssystem, in dem sich der Staat auf das Setzen notwendiger Rahmenbedingungen beschränkt und der Eigenverantwortung wieder den erforderlichen Stellenwert zumisst,
- ein freiberuflich geprägtes Gesundheitssystem mit einer starken ambulanten Versorgung, getragen durch inhabergeführte Praxisformen,
- eine Politik, die den besonderen Wert der freien Heilberufe und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anerkennt und würdigt und für gerechte Honorierung Sorge trägt,
- das uneingeschränkte Recht auf eine Selbstverwaltung mit weitem Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum.
Am Ende, und da bin ich mir ganz sicher, wenn wir diesen Weg gemeinsam gehen, werden wir diese Ziele erreichen und uns gegen alle Widerstände durchsetzen.
Die Zukunft wird zeigen, dass eine Gesundheitspolitik, die sich dauerhaft und vorsätzlich gegen die Interessen der Versicherten und gegen die berechtigten Belange derjenigen stellt, die das Gesundheitswesen tragen, keinen Bestand haben wird!
Bild: © KZBV/Knoff